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Massenproduktion im Dienste der Bildung – Die touronische Vollbibel Cod. 1

Handschrift des Monats Januar 2024
Datum:
1. Jan. 2024
Von:
Dr. Harald Horst
Mangelnde Bildung war auch schon im frühen Mittelalter ein Thema, und weil dies vor allem den einfachen Klerus betraf, schien letztlich die religiöse Einheit des fränkischen Reiches in Gefahr. Eine Bildungsreform sollte Abhilfe schaffen – auf der Grundlage einheitlich gestalteter, riesiger und massenhaft produzierter Bibelhandschriften.
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Am Beginn des neuen Jahres steht die Nummer 1 der Kölner Dombibliothek, eine Bibel des 9. Jahrhunderts (fol. 1v). Die numerisch aufsteigende Zählung der Domhandschriften geht auf den Jesuiten Joseph Hartzheim (†1763/67) zurück. In seinem 1752 erschienenen Katalog der Kölner Codices ordnete er die mittelalterlichen Manuskripte des Metropolitankapitels neu in Anlehnung an die überlieferten Bibliotheksordnungen. In dieser Systematik haben Bibelausgaben den ersten Rang; es folgen Bibelauslegungen und Schriften der Kirchenväter, dann Kirchenrecht, Liturgie usw. Die älteste vollständige Bibelhandschrift der Dombibliothek erhielt folglich die Nummer 1. Dass Hartzheim zugleich versuchte, mittels modischer, aber konservatorisch untauglicher Pergamenteinbände aus dem Kölner Bestand eine einheitlich wirkende Barockbibliothek zu machen, steht auf einem anderen Blatt. Leider musste auch Cod. 1 eine solche Umgestaltung ertragen, die sicher etliche Hinweise auf seine ursprüngliche Herkunft für immer vernichtete.

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Immerhin finden sich auf fol. 1r noch einige Eintragungen zur Geschichte des Bandes: So kam er wohl an den Petrus-Dom durch eine Stiftung des Erzbischofs Hermann I. (†924). Im Jahr 1241 wurde die Handschrift an den 1207 gegründeten Zisterzienserinnenkonvent Benden bei Brühl ausgeliehen – mit der Bemerkung, dass mehrere Seiten bereits verstümmelt seien (fol. 304r). Außerdem fehlen heute wohl einige Blätter, was sich aus einer später angebrachten, aber unvollständigen Lagenzählung schließen lässt. Wie und wann diese Bibel überhaupt nach Köln in die Hände des Stifters Hermann kam, bleibt allerdings letztlich unklar.

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Der paläographische und der kunsthistorische Befund lassen immerhin erkennen, dass die Handschrift zwischen 857 und 862 im Martinskloster von Tours geschrieben wurde. Tours war unter seinem Abt Alkuin (†804) zum wichtigsten jener klösterlichen Zentren geworden, in denen die sogenannte karolingische Bildungsreform umgesetzt wurde – das Streben nach einer besseren Ausbildung des Klerus, um im gesamten fränkischen Reich eine einheitliche Verkehrssprache (Latein) und eine einheitliche Religion (das römisch-katholische Christentum) unter einem einzigen Herrscher durchsetzen zu können. Dazu gehörte auch ein möglichst einheitlicher, gut lesbarer Bibeltext, der allen Kloster- und Kathedralschulen zur Verfügung gestellt wurde und eben in Produktionszentren wie Tours massenhaft hergestellt wurde (fol. 350v).

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Die heute noch etwa 50 erhaltenen Exemplare dieser touronischen Vollbibeln (oder Pandekten) des 9. Jahrhunderts belegen das beeindruckende Ausmaß dieser Unternehmung. Bis zu 24 Schreiber waren zeitgleich an der Verfertigung einer Bibel beschäftigt; ihre äußerst gleichmäßige Schrift mit der fast immer gleichen Zeilenzahl macht eine Unterscheidung von Schreiberhänden freilich recht schwierig. Wenn ein Schreiber mit der ihm zugeteilten Menge an Pergament nicht auskam, musste er allerdings gegen Ende seiner Lage schon einmal die Zeilenzahl erhöhen, um den Text noch ohne Verluste vollenden zu können: Bei einem Umfang von fast 400 Blättern in 50 x 36 cm Größe, was etwa 200 Schafs- oder Kalbshäuten entspricht, war Verschwendung nicht vorgesehen (fol. 83r).

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Eine Besonderheit der Schriftgestaltung zeichnet die touronischen Pandekten aus: die konsequent durchgehaltene Hierarchie der verwendeten Schriften. So ist der eigentliche Bibeltext zwar in einer nahezu normierten karolingischen Minuskel geschrieben. Für gliedernde Textteile wurden jedoch stets sogenannte Auszeichnungsschriften in verschiedener Größe und unterschiedlichen Farben benutzt. So sind die Titel und Initialen der biblischen Bücher in meist violetter, silberner oder goldener Capitalis quadrata ausgeführt, Prologe und erste Zeilen dann in Unzialschrift, gefolgt von einer Halbunziale, an die sich die karolingische Minuskel anschließt. Für das Explicit schließlich wird immer eine schmale Capitalis rustica in Braun oder Rot verwendet. Diese konsequente Einheitlichkeit setzt hervorragend ausgebildete Schreiber und ein straff geführtes Skriptorium voraus. Beim lateinischen Bibeltext war man allerdings wohl nicht ganz so streng: Zwar handelt es sich dabei um die auf Hieronymus (†420) zurückgehende Vulgata-Übersetzung, doch kursierten im Skriptorium davon offenbar verschiedene Vorlagen mit leichten Abweichungen. Das Kölner Bibelexemplar enthält sogar einen Brief des Apostels Paulus an die Laodizener (fol. 369r), der gar nicht zum Kanon der biblischen Schriften gehört.

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Auch der Buchschmuck der touronischen Bibeln ist weitgehend einheitlich gestaltet. Grundsätzlich finden sich nur abstrakt gestaltete Initialen mit Pflanzen- oder Tierornamenten in Minium, Rot, Violett, Grün und Gelb. Größere Buchstaben sind auch mit Verflechtungen des goldenen Randbandes und rankenartiger Füllung des Buchstabenkörpers verziert. Lediglich die Kanonbögen vor den vier Evangelien, die traditionell eine Gebäudearchitektur nachahmen, sind darüber hinaus mit Pfauen sowie Gegenständen wie etwa Lampen oder Hörnern geschmückt (fol. 302r). Für die zeitliche Einordnung ist der Vergleich zu früheren Handschriften wichtig, etwa der berühmten, unter Abt Vivian (†851) gestalteten Ersten Bibel Karls des Kahlen (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 1). Bildlich gestaltete Illustrationen wie in dieser fehlen im Kölner Exemplar. Vor allem fällt hier jedoch eine etwas kraftlose Gestaltung von Ranken und Stauden auf. Dies gilt als Zeichen für den Qualitätsverlust nach der 853 erfolgten Verwüstung des Martinsklosters durch die Normannen und eine nur zögerliche Wiederaufnahme der Bibelproduktion zwischen 857 und 862.