Zum Inhalt springen

Die Moral von der Geschicht' – Giovanni Boccaccio über berühmte Männer und Frauen (Cod. 168)

Handschrift des Monats Mai 2024
Datum:
1. Mai 2024
Von:
Dr. Harald Horst
Der Humanismus in der Frühen Neuzeit nahm sich die Antike literarisch und künstlerisch zum Vorbild. Giovanni Boccaccio etwa erzählt die gescheiterten Lebensläufe berühmter Persönlichkeiten mit einem deutlich mahnenden Zeigefinger. Doch gelang es längst nicht jedem Leser, daraus Schlüsse für die eigene Lebensgestaltung zu ziehen.
Cod-0168_001r_800

Profane Texte sind selten im Handschriftenbestand der Diözesan- und Dombibliothek, stammen die meisten dieser Bücher doch aus dem Besitz von Geistlichen oder Klöstern. Umso mehr ragt diese italienische Abschrift von zwei Werken des berühmten humanistischen Schriftstellers Giovanni Boccaccio († 1375) hervor. Sie wurde beim 9. Handschriften-Symposion unserer Bibliothek 2022 durch den Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Ralf Georg Czapla analysiert und historisch eingeordnet. Seine Ausführungen, publiziert im soeben erschienenen Tagungsband, werfen ein neues Licht auf die Provenienz dieser Handschrift, d.h. auf ihre Entstehung und ihren Weg in die heutige Dombibliothek. (fol. 1r)

Cod-0168_170r-800

Die Handschrift Cod. 168 besteht aus zwei unabhängig voneinander entstandenen Teilen. Der erste Teil enthält Boccaccios in neun Bücher gegliederte Sammlung über den Sturz bedeutender Männer, De casibus virorum illustrium, auf 169 Blättern. Der zweite Teil bietet auf 60 Blättern die nur ein Buch umfassende Sammlung über berühmte Frauen, De mulieribus claris (fol. 170r). In beiden Werken geht es um historische wie mythische Persönlichkeiten, von Adam und Eva über Dido und Aeneas, Marcus Antonius und Kleopatra bis hin zu Kaiser Julian Apostata oder Karl I. von Anjou. Da sich Lebensbeschreibungen besonders gut für pädagogische Zwecke eignen und Boccaccio ohnehin einen moralisierenden Stil pflegt, fanden beide Werke sowohl in ihrer lateinischen Urfassung als auch in verschiedenen Volkssprachen eine weite Verbreitung – und dies nicht erst seit der Erfindung des Buchdrucks.

Cod-0168_169v_800

Der Schreiber des ersten Teils von Cod. 168 nennt sich Borchardus de Hoya und stellt sich am Ende des Textes (fol. 169v) gleich zweimal vor: Einmal in Form eines Dreizeilers in leoninischen Hexametern, in denen er seinen Namen verschlüsselt, sowie direkt darunter noch einmal im Klartext zusammen mit der Jahresangabe 1399. Aus einem etwas versteckten Nachtrag von anderer Hand lässt sich schließen, dass Borchardus (Burkhard) den Text nicht nur abgeschrieben, sondern auch redaktionell überarbeitet und für den Buchbinder vorbereitet hat. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass der Schreiber die Abschrift als Geschenk für einen hochstehenden Verwandten anfertigte, nämlich den Fürstbischof von Hildesheim Johann III. von Hoya. Dieser war just im Jahr 1399 zum Hildesheimer Bischof ernannt worden und erhielt den Codex vielleicht als sinnreiches Geschenk, das ihn zu einem moralisch vorbildlichen Leben und einer ebensolchen Amtsführung ermuntern sollte. Genützt hat dies offensichtlich nichts, denn die Amtszeit Johanns III. war von Verschwendung, Rechtsbeugung und ständigen Fehden geprägt.

Cod-0168_056v 114r_800

Immerhin wurde die Handschrift im weiteren Kreis der Familie geschätzt und über Generationen weitergegeben: Über eine Schwester Johanns III. ging sie in den Besitz der Familie Spiegelbergh über, in der sie offenbar zu pädagogischen Zwecken genutzt wurde. So finden sich Hinweiszeichen, Unterstreichungen, handschriftliche Kommentare zum Text am Rand, aber auch eine Ente (fol. 56v), Gesichter im Profil und andere deutliche Zeichen eines gelangweilten Schülers. Ein gewisser Simon von Spiegelbergh († 1524) nennt sich selbst an zwei Stellen als Urheber dieser Bearbeitungen (fol. 114r und 125v). Er wird greifbar als Neffe des Kölner Domherren Moritz von Spiegelbergh († 1483), der bereits im Februar als bibliophiler Sammler und Besitzer von Cod. 2 der Dombibliothek vorgestellt wurde und der die Boccaccio-Handschrift seinem Neffen offenbar zeitweise überlassen hatte.

Cod-0168_229v_800

Der Besitzeintrag des Mauritius Comes de Speygelbergh findet sich zunächst am Ende von De casibus virorum illustrium, also auf dem bereits genannten fol. 169v. Am Ende des Inhaltsverzeichnisses von De mulieribus claris trug er außerdem selbst ein, dass er diesen zweiten Faszikel am 28. Juli 1453 „zu einem angemessenen Preis“ kaufte (fol. 229v). Offenbar ließ er auch die beiden Teile erstmals zu einem Band zusammenfügen, denn der kürzere Boccaccio-Text stammt von einem anderen, eindeutig italienischen Schreiber. Spiegelbergh war ein planvoller Sammler von Handschriften; die im Protokoll seines Testamentsvollstreckers genannten Buchtitel lassen seine Aufgeschlossenheit für einen Humanismus christlicher Prägung erkennen. Es finden sich, wie Czapla aufzählt, „Cicero und Ovid als stilbildende Autoren für Prosa und Vers, Priscian als Gewährsmann für die grammatikalische Richtigkeit eines modernen Latein, Boccaccio als dessen Meister und Johannes Marchesinus (…) als Verfasser ‚eines der zentralen Hand- und Hilfsbücher des Spätmittelalters zur Bibel‘.“ Doch die Dombibliothek erbte nicht den gesamten Buchbesitz; einige Titel gingen auch „als Stiftung in den Emmericher Raum, wo Spiegelbergh seit 1444 als Propst des Kollegiatsstifts St. Martin wirkte.“ Die Nachwelt sah in ihm einen bedeutenden Redner und Dichter; sein Studienfreund Rudolf Agricola († 1485) verfasste anlässlich seines Todes zwei Lobgedichte, die 1484 gedruckt wurden. Von Spiegelbergh selbst sind jedoch keine schriftlich verfassten Werke erhalten – ein Schicksal, das er mit vielen Gelegenheitsdichtern des frühen Humanismus teilt.

Cod-0168_112v_800

Neben dem Zusammenfügen beider Boccaccio-Texte könnte Spiegelbergh auch nachträglich für die abschließende künstlerische Ausstattung beider Teile gesorgt haben, denn der Buchschmuck zeigt sich höchst uneinheitlich. Lediglich die D-Initiale des Widmungsschreibens auf fol. 1r scheint zur ursprünglichen Ausstattung des Bandes zu gehören: Das blaue Ornament des sonst roten Buchstabenkörpers und die ausschließlich rot gehaltenen üppigen Eierstäbe, Blattmuster und Fadenausläufer weichen deutlich von der Verzierung der übrigen Initialen ab. Die blau-roten Initialen zu den Büchern I, II und IV auf fol. 2r, 19r und 56r sind von fast dilettantisch schlechter Qualität, ihr grober Federschmuck in schwarzer Tinte könnte von einem Schreiber stammen. Die Fleuronnée-Initialen der übrigen Bücher von De casibus virorum (z.B. Buch VII / fol. 112v) sowie am Beginn von De mulieribus ähneln sich sehr stark und sind wieder von deutlich besserer Qualität, insbesondere im Blick auf die roten Keimblätter und die mit zarter Feder gezogenen Fadenausläufer. Sie deuten ohnehin eher ins fortgeschrittene 15. Jahrhundert, so dass die vielleicht einst unvollendet gebliebenen Faszikel auf Veranlassung des Moritz von Spiegelbergh nicht nur zusammengebunden, sondern auch künstlerisch vervollständigt wurden.

Digitalisate der Handschrift und weitergehende Informationen können jederzeit über die Digitalen Sammlungen der Diözesanbibliothek abgerufen werden: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-3340Der Tagungsband zum 9. Handschriften-Symposion mit dem Beitrag von Ralf Georg Czapla (S. 111-139) kann hier bestellt werden: https://www.dombibliothek-koeln.de/m-article/Band-85/.

 

Abbildungen:

Cod. 168, fol. 1r: Widmungsvorrede zu De casibus virorum illustrium

Cod. 168, fol. 170r: Beginn von De mulieribus claris

Cod. 168, fol. 169v: Einträge am Ende von De casibus ... 

Cod. 168, fol. 56r und 114r: Zeichnungen und Anmerkungen des Simon von Spiegelberg 

Cod. 168, fol. 229v: Kaufvermerk des Moritz von Spiegelberg

Cod. 168, fol. 112v: Fleuronnée-Initiale am Beginn von Buch VII von De casibus …

 

Ansprechpartner:

Herr Dr. Harald Horst
Telefon: 0049 221 1642 3796 

E-Mail