Schlichtes Gewand für glorreiche Erzählungen – Die „Legenda aurea“ in Cod. 1013
Mit seiner weitverbreiteten „Goldenen Legende“, erbaulichen Erzählungen vom Leben und Wunderwirken der Heiligen, zählt Jacobus de Voragine zu den Bestsellerautoren des Mittelalters. Eine 1465 angefertigte Abschrift der Legende aus dem niederrheinischen Kollegiatstift Sittard kommt zunächst ganz unscheinbar daher, hält aber bei genauer Betrachtung einige Überraschungen bereit – wie so viele Gebrauchshandschriften des Mittelalters.
Die „Goldene Legende“ (Legenda aurea) des Dominikaners Jacobus de Voragine (1228/29-1298) ist vermutlich das bekannteste und am weitesten verbreitete religiöse Volksbuch des Mittelalters. In ursprünglich 182 Traktaten über das Leben der Heiligen und die großen Feste des Kirchenjahres erläuterte Jacobus die Bedeutung der prägenden Personen und geprägten Zeiten, der Liturgie und des Brauchtums. Durch ihr einfaches Latein und eine verdichtete Darstellung der Erzählungen erreichte die Legenda schnell weite Kreise und wurde auch bald in verschiedene Volkssprachen übersetzt. Den Gläubigen diente das Werk der täglichen erbaulichen Lektüre wie auch als Anleitung zur religiösen Besinnung an Festtagen (fol. 1r). Nach dem Vorbild der Heiligen sollte es sie zu einem vertieften religiösen Leben in der Nachfolge Christi anregen.
Der Autor Jacobus stammte aus Varazze südwestlich von Genua, trat 1244 in den Dominikanerorden ein und soll in Bologna und Paris Theologie studiert haben. 1267 wurde er zum Provinzial der norditalienischen Ordensprovinz gewählt. Zeitweise leitete er auch den Gesamtorden, bevor er 1292 zum Erzbischof von Genua ernannt wurde. Neben der Legenda aurea verfasste er eine kürzere Legenda sanctorum, eine Chronik der Stadt Genua sowie etliche Predigtreihen. Für sein populärstes Werk trug er eine Fülle von Material zusammen; als Quellen nennt er selbst etwa die Kirchenväter Hieronymus und Augustinus. Durch ihre weite Verbreitung wurde die Legendensammlung selbst zu einer der wichtigsten Quellen der Heiligenverehrung. Viele Attribute, die sich in der christlichen Kunst wiederfinden, leiten sich aus der Legenda aurea ab, ja sind zum Teil ohne dieses Werk nicht mehr zu verstehen (fol. 75r).
Die Legenda ist heute in über 1.000 Handschriften in verschiedenen Sprachen wie auch zahlreichen Drucken erhalten. Besonders in den volkssprachigen Übersetzungen wurde sie häufig durch örtliche Legenden erweitert und erreichte damit teilweise das Doppelte ihres ursprünglichen Umfangs. Aber auch die lateinische Fassung erfuhr im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche Erweiterungen. So folgt die in Cod. 1013 der Diözesanbibliothek vorliegende, eher späte lateinische Abschrift nicht ausnahmslos dem ursprünglichen Text, wie ihn die seit 1998 maßgebliche Edition von Giovanni Paolo Maggioni rekonstruierte (fol. 173v). Neben Abweichungen in der Reihenfolge der Texte enthält sie auch etliche „Fremdlegenden“ wie die des Bischofs Nicasius von Reims (fol. 18r) oder des nach Petrus ersten Papstes Linus (fol. 334r).
Die Entstehung und Weitergabe der Handschrift Cod. 1013 lässt sich vergleichsweise gut nachvollziehen. Die Abschrift der Legenda aurea stammt aus der Hand eines Mathias Oevendersch, der Rektor des Marienaltars im Kollegiatstift St. Petrus zu Sittard war. Das Stift war 1299 an der seit dem 11. Jahrhundert bestehenden Kirche der heute niederländischen Gemeinde Sittard-Geleen gegründet worden. Auf fol. 339r gibt Oevendersch das genaue Datum der Vollendung dieser Arbeit an, nämlich den 22. Juni 1465. Zwischen fol. 159r (Mitte) und 168v ließ er einige Blätter frei, auf denen ein unbekannter Schreiber eine Thomas von Aquin zugeschriebene Fronleichnamspredigt, den Sermo de sacro sacramento, eintrug (fol. 159ra-165ra). Von einer dritten Hand vermutlich des 16. Jahrhunderts stammt schließlich der kurze Text über die hl. Fides auf dem Fliegenden Blatt des Vorsatzes (fol. V1). Zahlreiche Federproben auf leeren Seiten sowie Anmerkungen an den Blatträndern aus verschiedenen Zeiten begleiten den offenbar vielgelesenen Text.
Im 17. Jahrhundert überließ der Sekretär Reiner Corten aus Geleen den Band, der sich mittlerweile in seinem Besitz befand, dem 1626 gegründeten Dominikanerkonvent in Sittard. Davon zeugt der nach dem Kolophon eingetragene gekürzte Vermerk „B. S. O. P.“ (Bibliotheca Sittardiensis Ordinis Praedicatorum, fol. 339r) sowie ein Besitzeintrag auf der Innenseite des Vorderdeckels: Bibliothecae Conventus Sittardiensis ordinis Praedicatorum dono datus a D. Renerio Corten Secretario in Gelien. Am 5.9.1802 Im Zuge der Säkularisation wurde das Kloster am 5.9.1802 durch die Französische Verwaltung aufgelöst und die Bibliothek zerstreut; zwei Handschriften und acht Inkunabeln daraus finden sich heute in der Diözesanbibliothek Köln im Fundus der ehemaligen Priesterseminarsbibliothek.
Ein Blick auf die Gestaltung der Handschrift Cod. 1013 und insbesondere ihren Buchschmuck lässt erkennen, dass es sich bei dieser Abschrift der „Goldenen Legende“ eigentlich um eine typische Gebrauchshandschrift des Spätmittelalters handelt – ein für den eigenen Gebrauch, die eigene betrachtende Lektüre hergestelltes Buch. Die nichtsdestotrotz sorgfältige Markierung von Bibelzitaten mit roten Linien, die Ausschmückung mit roten und blauen Lombarden zu Beginn neuer Abschnitte sowie vor allem die großen, fünf bis sieben Zeilen einnehmenden rot-blauen Zierinitialen bei wichtigen Festtagen (fol. 169r) lassen jedoch noch eine andere Verwendungsmöglichkeit zu. Das Verlesen von Heiligenlegenden gehört traditionell zum nächtlichen Gebetspensum von geistlichen Gemeinschaften, zu den sogenannten Nokturnen. So wäre es denkbar, dass die künstlerischen Verzierungen in der Abschrift des Mathias Oevendersch nicht nur dem Markieren von neuen Abschnitten und Festen dienten, sondern auch repräsentativen Charakter hatten. Die Handschrift könnte somit ohne Weiteres in der gemeinschaftlichen Liturgie des Kanonikerstifts von Sittard verwendet worden sein. Ob die Dominikaner sie fast zwei Jahrhunderte später ebenfalls auf diese Weise nutzten, lässt sich allerdings nicht mehr erkennen.