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Sankt Martin ohne Schwert und Mantel? Ein Antiphonar voller Rätsel (Cod. 1521)

Handschrift des Monats Juni 2024
Datum:
1. Juni 2024
Von:
Dr. Harald Horst
Dieses spätmittelalterliche Antiphonar, ein Buch für die Gesänge des Chorgebets außerhalb der Messe, wurde lange Zeit für ein Produkt aus der Benediktinerabtei Groß St. Martin gehalten. Wer genauer und unvoreingenommen hinschaut, wird jedoch einen völlig anderen Entstehungs- und Überlieferungszusammenhang erkennen.
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden etliche historisch wertvolle Bücher aus Kölner Pfarreien an die Diözesanbibliothek abgegeben, die damals noch „Bibliothek des Priesterseminars“ hieß. Unter den Abgaben waren auch drei liturgische Bücher aus der Pfarrei Groß St. Martin: ein Graduale (Cod. 1519), ein Missale (Cod. 1520) und ein Antiphonar, der hier vorgestellte Codex 1521. Im Gegensatz zu den beiden anderen Codices trägt das Antiphonar keinen zeitgenössischen Hinweis auf seinen Entstehungsort, also weder einen Schreibervermerk noch einen Besitzeintrag. Vom Stil seiner Illuminationen wie auch seiner Schrift unterscheidet es sich außerdem sehr stark von den beiden anderen Handschriften, so dass man von einer anderen Werkstatt ausgehen muss. In der Darstellung eines Almosen gebenden Bischofs zu Beginn der Festgesänge für einen Bekenner (fol. 241v) meinte die frühere Forschung dennoch, den hl. Martin von Tours zu erkennen. So ließen sich Entstehung und Vorbesitz des Buches scheinbar folgerichtig der ehemaligen Benediktinerabtei Groß St. Martin zuordnen. Doch diese vorgebliche Martinsdarstellung ist ikonographisch völlig unüblich und passt auch nicht zum Heiligenkalender des Winterteils. Mit diesem und vielen weiteren Argumenten konnte nun gezeigt werden, dass sich diese Zuschreibung nicht aufrechterhalten lässt.

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Ein Antiphonar dient dem Chorgesang beim Gebet von religiösen Gemeinschaften – Mönchen, Nonnen, Kanonikern oder Chorfrauen – außerhalb der Messe, zu den sogenannten kanonischen Horen (Stundengebeten). Wegen der Vielzahl der Gebete und Gesänge wurde es in der Regel auf zwei Bände aufgeteilt, so auch in diesem Fall: Bei Cod. 1521 handelt es sich um den Winterteil eines Antiphonars, der liturgisch vom 1. Advent bis zum Karsamstag reicht (fol. 338v: hl. Papst Gregor I., früher 12.3.). Ein ergänzender Sommerteil – worin sich auch das Martinsfest befinden müsste – ist heute nicht mehr erhalten. Der Codex umfasst 363 Blätter aus Pergament sowie einige später eingeschobene Ergänzungen auf Papier und Pergament. Seine beeindruckende Größe von 52 x 36,5 cm weist darauf hin, dass immer mehrere Sänger gleichzeitig in das Buch hineinschauten – für die Liturgie des Kölner Doms etwa wurden einmal 12 bis 18 Choralsänger pro Buch errechnet.

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Das Antiphonar gliedert sich wie üblich in einen Abschnitt für die Festtage des Kirchenjahres (Proprium de tempore, fol. 2r-219v), einen Teil für allgemeine Heiligenfeste (Commune sanctorum, fol. 220r-259v) und die Eigenliturgien bestimmter Heiliger (Proprium de sanctis, fol. 260r-353v) sowie einen Abschnitt mit Hymnen (fol. 353v-363v). Der Text wurde in spätgotischer Textualis formata geschrieben, die deutlich von den erwähnten anderen Handschriften aus Groß St. Martin abweicht. Die einfachen Verzierungen – rote und blaue Lombarden sowie schwarze Cadellen mit mehrfarbigen Federstrichverzierungen – dürften ebenfalls vom Schreiber stammen. Dabei hat der Zeichner den Sängern kleine Erheiterungen mit auf den Weg gegeben: Die Verzierungen zeigen etliche karikierte Männerköpfe mit geöffneten Mündern, denen Silben wie „la la la“ (fol. 7r, 189v) oder „Bae“ (fol. 8v) beigegeben sind. Mehrere Köpfe stecken dem Betrachter gar eine rot gefärbte Zunge heraus (fol. 203v, 205r, 248v). Insgesamt sprechen die Schrift und die Art der Cadellenverzierung für eine Herstellung des Antiphonars im Skriptorium der Fraterherren am Weidenbach zu Beginn des 16. Jahrhunderts, wie sich aus einem Vergleich mit dem 1498 entstandenen Graduale Cod. 229 schließen lässt.

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Die Seiten sind reichlich mit farbigen Illuminationen geschmückt: Der Codex weist 16 historisierte und sechs Ornament-Initialen auf. Eine weitere Initiale, ein silbernes „E“ (fol. 220v), wurde ursprünglich mit Blüten und Blattranken verziert, auf die dann nachträglich zwei mit dem Schwert kämpfende Männer platziert wurden. Einer davon trägt die Kleidung eines Edelmannes, der andere die eines Bauern. Die Szene könnte auf den Inhalt der Antiphon „Ecce ego mitto vos“ anspielen, nach der Christus seine Apostel „wie Schafe unter die Wölfe“ schickt (Mt 10,16) und etwas später im Evangelium sagt, er sei nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34).

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Insgesamt weisen die Illuminationen unterschiedliche Stile auf, die mindestens fünf Künstler erkennen lassen. Sie werden einer anonymen Kölner Buchmalergruppe zugeordnet, die sich durch ein breitgefächertes Dekorationsrepertoire ohne verbindlichen Werkstattstil auszeichnet (Elisabeth Hemfort, 2001). Dies erklärt auch die sehr unterschiedliche Qualität der Malereien, die z.B. im Vergleich der detailliert ausgearbeiteten Weihnachtsdarstellung (fol. 45r) mit einer simpel geschmückten Ornamentinitiale (fol. 250r) sichtbar wird. Somit verbietet sich die Zuordnung der Malereien zur Malerschule von Groß St. Martin; auch die Fraterherren waren zwar Schreiber, aber nicht Maler in diesem Antiphonar.

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Auch inhaltlich spiegelt das Antiphonar nicht die Liturgie eines Benediktinerklosters, sondern eher die eines Damenstifts wider – zu denken wäre hier an die regulierten Augustiner-Chorfrauen von St. Cäcilia. Erst recht, weil sich hier eine interessante Parallele in der Einbandgestaltung von Cod. 1521 mit dem aus St. Cäcilia stammenden, heute im Museum Schnütgen aufbewahrten Antiphonar der Anna Hachenberch zeigt: Hier wie dort finden sich Eckbeschläge aus Messing, die einen gekrönten Adler in Blattwerk darstellen. Die Rosetten auf der Deckelmitte dagegen werden von drei großen Vögeln oder Drachen gebildet, die sich gegenseitig verfolgen (Vorderdeckel). Auch diese Art der Beschläge wird dem Fraterhaus am Weidenbach zugeordnet, so dass man insgesamt einen Auftrag der Chorfrauen an die Fraterherren vermuten könnte. Die Nachträge im Buch sowie der auf einer Schließe eingeritzte Name „Ludimagister Leonardus Schmitz“ weisen darauf hin, dass das Chorbuch noch im 18. Jahrhundert genutzt wurde, und zwar an der Pfarrkirche St. Laurenz. Nach der Säkularisierung und Zerstörung dieser Kirche wurde der Codex vielleicht durch einen historisch interessierten Kaplan namens Augustin Forst in die neue Pfarrkirche Groß St. Martin hinübergerettet. Für einen Beweis in dieser Richtung fehlen allerdings bis heute einschlägige Quellen.

Digitalisate der Handschrift und weitergehende Informationen können jederzeit über die Digitalen Sammlungen der Diözesanbibliothek abgerufen werden: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-3918.

 

Abbildungen:

Cod. 1521, fol. 241v: Ein Almosen gebender Bischof in der A-Initiale zum Commune eines Bekenners

Cod. 1521, fol. 338v: G-Initiale zum Fest des hl. Papstes Gregor (früher am 12.3. gefeiert)

Cod. 1521, fol. 7r, 8v und 203v: Karikierte Männerköpfe an Cadellen 

Cod. 1521, fol. 220v: E-Initiale mit Ornament und Schwertkämpfern zum Apostel-Commune

Cod. 1521, fol. 45r: Historisierte H-Initiale zu Weihnachten,  fol. 250r: Ornamentinitiale „U(eni)“ zum Commune einer Jungfrau

Cod. 1521, Vorderdeckel mit Messingbeschlägen

 

Ansprechpartner:

Herr Dr. Harald Horst
Telefon: 0049 221 1642 3796 

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