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Kein Werk aus einem Guss - Das Graduale für Groß St. Martin (Cod. 1519)

Handschrift des Monats Juni 2022
Datum:
1. Juni 2022
Von:
Dr. Harald Horst
Das großformatige Graduale wurde bei den Benediktinern von Groß St. Martin in Köln geschrieben und ausgemalt, lässt allerdings verschiedene Malstile erkennen. Einer der Künstler soll auch mit Raffael die Stanzen des Vatikan ausgemalt haben.
Cod-1519_133v

Im Gegensatz zur Handschrift des Monats Mai 2022, dem ursprünglich zweibändig angelegten Cod. 1173 vom Beginn des  14. Jahrhunderts, besteht das Graduale Cod. 1519 aus einem einzigen Band. Um alle in der hl. Messe verwendeten Gregorianischen Gesänge darin unterbringen zu können, benötigte man noch größere Blätter (53 mal 37 cm) und musste auch deren Anzahl vermehren. Innerhalb von fast 200 Jahren hat sich selbstverständlich auch der Stil des Buchschmucks stark verändert, wie das Bild zu Pfingsten – der Heilige Geist schwebt hier in Gestalt einer Taube über Maria und den Jüngern – erkennen lässt (fol. 133v).

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Über seine Entstehung geben zwei Schreibervermerke am Ende des Codex Auskunft: Demnach schrieb Heinrich von Zonsbeck, Benediktinermönch in Groß St. Martin zu Köln, das Buch im Jahr 1500, zur Zeit des Abtes Heinrich von Lippe. Darüberstehend informiert der Mönch Isaac Elaudt, dass er im Auftrag von Abt Jakob Schorn im Jahr 1655 den Inhalt an den römischen Ritus angepasst habe. Das Chorbuch war also noch lange nach seiner Anfertigung in Gebrauch. Auf einen möglichen, noch nicht identifizierten Stifter weisen die Wappen der Stadt Köln und des Hauses Jülich-Geldern am unteren Rand der ersten Seite hin (fol. 1r).

Cod-1519_139r

Aus der Hand des Schreibers Heinrich von Zonsbeck stammen wohl auch die einfacheren, mit der Feder gezeichneten Zierinitialen, das heißt die blauen und roten Lombarden und Fleuronnée-Initialen sowie die schwarzen Cadellen. Der Deckfarbenschmuck dagegen wurde von mindestens zwei Buchmalern ausgeführt. Vier Schmuckinitialen und fünf historisierte Initialen – neben dem Pfingstbild etwa auch die Darstellung der hl. Dreifaltigkeit (fol. 139r) – werden der "Werkstatt des Meisters der schwarzen Augen“ zugeschrieben. 

Cod-1519_141v

Diese niederländische Künstlergruppe wirkte vor allem an Stundenbüchern mit, zum Beispiel dem 2021 vorgestellten Cod. 1117 der Diözesanbibliothek, der ebenfalls nach Groß St. Martin verortet wird. Die Streublumenrahmen oder Buchstabenfüllungen mit ihren naturalistischen, detailreichen Darstellungen von Pflanzen und Tieren weisen auf Gent-Brügger Einflüsse hin (fol. 141v).

Cod-1519_112v

Eine ganz andere Malweise zeigt dagegen die R-Initiale mit Christi Auferstehung zum Ostersonntag (fol. 112v). Sie wird Johannes Ruysch zugeschrieben, der aus Utrecht stammte und 1492 in Groß St. Martin seine Gelübde ablegte. Er wirkte zunächst als theologischer Schriftsteller, Astronom, Maler und Kupferstecher. Unter Abt Heinrich von Lippe floh er jedoch aus dem Kloster und soll über Portugal bis Neufundland gekommen sein. Schließlich lebte er längere Zeit in Rom, wo er mit Raffael in den Stanzen des Vatikan gemalt haben soll. Am Ende seines Lebens kehrte er wieder nach Groß St. Martin zurück, wo er 1533 starb. 

Cod-1519_175r

Der Stil des Johannes Ruysch zeigt eher kölnische als niederländische Einflüsse – möglicherweise hatte er das Malen in einem anderen Kölner Kloster, vielleicht in St. Pantaleon, gelernt. Die fünf historisierten und sechs Ornamentinitialen aus seiner Hand – beispielhaft hier ein E aus farbigen Blattranken auf goldenem Grund (fol. 175r) – belegen zweifelsfrei seine große Meisterschaft.