Eine Reichenauer Prachthandschrift im Gebrauch – Das „Limburger Evangeliar“ Cod. 218 (Teil 2)
Die um 1025 auf der Reichenau angefertigte Prachthandschrift war von vornherein für eine Nutzung in der Liturgie angelegt, was sogar bis ins 17. Jahrhundert hinein fortgeführt wurde. Getilgte Einträge aus dieser Zeit lassen sich heute wieder lesbar machen – und offenbaren den spannenden Rest der Besitzgeschichte.
Schon im ersten Teil dieser Handschriftenbeschreibung (vgl. Handschrift des Monats August 2024) wurde darauf hingewiesen, dass das sogenannte „Limburger Evangeliar“ offenbar von vornherein für eine liturgische Lesenutzung eingerichtet wurde. Die Prachthandschrift wurde um 1024/25 auf der Klosterinsel Reichenau geschaffen, deren berühmtes Skriptorium derzeit im Mittelpunkt einer Großen Landesausstellung in Konstanz steht. Das "Limburger Evangeliar", Cod. 218 der Kölner Dombibliothek, ist dort noch bis zum 20. Oktober 2024 zu sehen. Die Reichenauer Buchkünstler fügten ihm zusätzlich zu den Evangelistenporträts und Kanontafeln weitere acht Blätter mit ganzseitigen Malereien zum Leben Jesu in den Text ein. Die Miniaturen stehen dabei gegenüber der zum jeweiligen Fest gehörenden Perikope. Sie sind derart eng mit dem Text verbunden, dass dieser bisweilen unterbrochen wird, um Raum für das Bild zu geben. Das lässt sich etwa bei der Darstellung von Christi Geburt beobachten (fol. 21r), wo der Satz „et non cognoscebat eam donec“ (fol. 20v) abrupt abreißt und nach einer halben Leerseite erst auf der Rückseite der Miniatur mit „peperit filium suum“ (fol. 21v) fortgesetzt wird. Das Bild nimmt hier und an anderen Stellen also das berichtete Ereignis vorweg.
Auf Geburt und Anbetung durch die hl. Drei Könige (fol. 22r) folgt im Miniaturenzyklus die Taufe Christi (fol. 24r), wie bereits beschrieben. Die sich anschließenden Darstellungen verschiedener Wunder Jesu sind zwar ungewöhnlich, verleihen durch ihre Stellung jedoch den dazugehörigen Evangelienlesungen vor dem Beginn der Fastenzeit theologisches Gewicht. Sie scheinen die Göttlichkeit des Menschensohnes betonen zu wollen, die Macht Christi als Messias und göttlicher Herrscher, wie etwa hier bei der Heilung eines Aussätzigen (fol. 31r).
Auf fol. 34r werden gleich zwei Wunder kombiniert: die Heilung einer Frau, die Jesu Gewand berührt, vom Blutfluss, sowie die Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jairus. Die beiden Register der Bildseite teilen sich den gleichen vollflächigen Goldhintergrund und sind lediglich durch ein schmales Dekorband getrennt. Wie im Evangelienbericht hängen diese Ereignisse jedoch eng zusammen, denn Jesus ist auf dem Weg zur Tochter des Jairus, als ihn die blutflüssige Frau berührt. Folgerichtig ist im oberen Register rechts Jairus dargestellt, der Jesus zu seiner verstorbenen Tochter führt – sein rechter Fuß überschreitet sicher nicht zufällig das Dekorband zum unteren Register.
Die Heilung von zwei blinden Männern schließt diesen Wunderzyklus ab (fol. 35r). Wie schon bei den vorangegangenen Miniaturen fällt auf, dass die bildliche Darstellung in leichtem Widerspruch zum Text steht: Stets wird in den Evangelien erwähnt, dass Jesus diese Heilungen durch Berührung vollzog, doch die Miniaturen zeigen lediglich einen Segensgestus. Die Maler wollten offenbar die Macht und Kraft des Wortes Christi betonen, was durch die Schriftrolle in seinen Händen noch verstärkt wird. Auf der anderen Seite stehen jeweils die gläubig-annehmenden Gesten der Geheilten. Ganz wie in den Orationen und Gesängen in der Liturgie dieser Wochen zwischen Epiphanie und Fastenzeit weisen die Miniaturen folglich darauf hin, dass sich Gott als Retter und Beschützer derjenigen zeigt, die an ihn und seinen Gesandten glauben.
Neben diesem schon im Buch angelegten, theologisch recht subtilen Wechselspiel zwischen Miniatur und Liturgie finden sich im „Limburger Evangeliar“ auch zahlreiche konkrete Ergänzungen aus späteren Zeiten. Der paläographische Befund sowie mit spektroskopischen Methoden durchgeführte Tintenanalysen legen nahe, dass es im 12. und 13. Jahrhundert verschiedene, jeweils zusammenhängende Kampagnen zur Einrichtung des Evangelienbuches für die liturgische Lesenutzung gegeben hat. Neben Neumen unterschiedlicher Art, die die Satzmelodie angeben, wurde häufig der Umfang eines Leseabschnitts markiert und an einer Stelle gar eine abweichende Einleitungsformel („Dixit Ihesus turbis“) am Rand notiert (fol. 189r). Da sich die meisten Eintragungen bei Lesungen zu den Festen Kreuzerhöhung und Kreuzauffindung finden, dürften sie sich auf die Patronatsfeste der Abtei zum Heiligen Kreuz Limburg beziehen und somit auch dort eingetragen worden sein.
Eine weitere Schicht von Eintragungen ist deutlich dem 17. Jahrhundert zuzuordnen und erhellt endlich die Besitzgeschichte des Evangeliars nach der Aufhebung des Klosters Limburg im 16. Jahrhundert. Auf fol. 62r verweist ein später wieder getilgter Vermerk auf das Fest der Translation des hl. Heribert. Er war Erzbischof von Köln († 1021) und Gründer der Benediktinerabtei in Deutz, wo auch seine Ruhestätte lag. Auch viele andere derart markierten Feste wie etwa das des hl. Benedikt (fol. 52v) weisen in die Richtung, die der Hamburger Kunsthistoriker Jochen H. Vennebusch in seiner Dissertation herausarbeitet: Beim Neubau der Deutzer Abteikirche nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges hat der Konvent das Limburger Evangeliar möglicherweise als Ersatz für ein eigenes, zerstörtes Exemplar erhalten. Durch sein hohes Alter und die adaptierende Einrichtung für die Deutzer Liturgie konnte es „als eine Art Traditionscodex“ in die Festgottesdienste dort eingebunden werden. Es belegt damit, dass Prachtcodices im Mittelalter nicht nur zu Repräsentationszwecken gezeigt, sondern tatsächlich auch zur Verlesung der Perikopen genutzt wurden, und dass diese Lesenutzung selbst nach der Einführung von Vollmissalien bis in die Frühe Neuzeit hinein weiter praktiziert wurde.