Eine Handschrift voller Geheimnisse - Das „Limburger Evangeliar“ Cod. 218 (Teil 1)
Es wurde auf der Reichenau angefertigt und vom Kaiser anlässlich einer Klostergründung gestiftet.
Die Szene ist aus der mittelalterlichen Kunst sattsam bekannt, erst recht in Köln: Die Heiligen Drei Könige besuchen das neugeborene Jesuskind und seine Mutter (Cod. 218, fol. 22r). Als Geschenke bringen sie Gold, Weihrauch und Myrrhe dar – Hinweise auf Christus als König und Gott sowie auf seine Kreuzigung. Der prachtvolle Hintergrund aus Blattgold und die Architekturrahmung mit Vorhang versetzen die Szene in die Sphäre des Göttlichen und Überzeitlichen. Aber etwas stimmt nicht: Die Personen schauen sich gar nicht an! Die drei Heiligen schauen nicht einmal auf Jesus, und auch das Kind und Maria blicken nicht zu ihren Gästen. In der Blickrichtung aller prangt vielmehr der leuchtend rote Stern, der die Weisen nach Betlehem geleitet hat. Warum?
Das Evangeliar Cod. 218 der Dombibliothek wurde um 1024/25 auf der Klosterinsel Reichenau geschaffen – in einem Skriptorium also, das für seine hochwertigen Buchmalereien seit dem 10. Jahrhundert berühmt und stilbildend war. Einige der wichtigsten Handschriften aus dieser Werkstatt zählen heute zum Weltkulturerbe. Vermutlich auf Anforderung des neugewählten Königs Konrad II. hergestellt, wurde Cod. 218 zunächst für keinen bestimmten Ort konzipiert. Dem bereits um 1024 gegründeten Benediktinerkloster Zum Heiligen Kreuz in Limburg an der Haardt, einem Ausläufer des Pfälzer Waldes über Bad Dürkheim, könnte das Evangeliar spätestens bei der Weihe der Abteikirche im Jahre 1042 übergeben worden sein. Ein deftiger Bücherfluch aus dem 12. Jahrhundert auf fol. 1r der Handschrift belegt jedenfalls diesen Besitz: Allen, die den Codex aus dem Kloster Limburg entwenden sollten, wird darin die Ungnade der Heiligen und göttliche Strafe angedroht. Genützt hat dieser Fluch leider wenig, wie die weitere Geschichte dieses Buches zeigen sollte.
Neben den in Prachtevangeliaren üblichen Evangelistenporträts sind in dem Codex ganzseitige Miniaturen aus dem Leben und Wunderwirken Jesu eingefügt, die jedoch nicht den bekannten Bildkonzepten folgen. Die Kölner Kunsthistorikerin Susanne Wittekind kam den Gründen für diese Abweichungen auf die Spur, indem sie dem theologischen und liturgischen Kontext der Handschrift nachging, also ihrer konkreten Einbettung in die Liturgie des Limburger Klosters. Wenn etwa beim Fest der Epiphanie alle Figuren auf den Stern blicken, ist dieser im Kontext der Tagesgebete als das Licht des Glaubens zu interpretieren, das mit Christus strahlend aufgegangen ist und den Geist der Gläubigen beseelt. Ähnlich lässt sich ein Detail bei der Darstellung der Taufe Christi erklären (fol. 24r): Der Heilige Geist in Gestalt einer Taube, wie beim Pfingstwunder umgeben von sieben Strahlen, hält ein goldenes Kreuz im Schnabel. Durch den Geist Gottes wird damit den Gläubigen die Bedeutung des Geschehens geoffenbart, nämlich die Auserwählung Jesu für die Passion und Überwindung des Todes in der Auferstehung.
Die Darstellungen der vier Evangelisten, die ohnehin sehr uneinheitlich gestaltet sind, werfen weitere Fragen auf, die sich nur durch die theologische „Aufladung“ der Bilder klären lassen. Während Lukas und Johannes in klassischer Weise zwischen Säulen unter einer fantasievoll gestalteten Dachkonstruktion sitzen und die Betrachtenden frontal anschauen, wurde Markus in ein prächtig gerahmtes und von großen Vögeln begrenztes Sechseck versetzt (fol. 73v). Zwischen Mauern und Türmen sitzt er auf einem Faldistorium, das aus übereinandergestapelten Büchern zu bestehen scheint, und widmet sich dem Schreiben seines Evangeliums. Im Blick hat er offenbar dessen Beginn auf der gegenüberliegenden Zierseite mit der Initiale I („Initium evangelii Ihesu Christi…“) (fol. 74r). Im Zusammenspiel mit der Schriftrolle, die aus dem Himmel zu kommen scheint und dort vom Löwen, dem Symboltier des Evangelisten, gehalten wird, könnte dies eine Authentifizierung seines Textes durch göttliche Offenbarung darstellen.
Ganz ungewöhnlich innerhalb des Formenrepertoires der Reichenauer Buchmalerei jedoch ist die Darstellung des Evangelisten Matthäus (fol. 18v). Die Pergamentrolle mit seinem Evangelium hält nicht nur er alleine in Händen, sondern sie endet in der linken Hand eines bärtigen alten Mannes am rechten Bildrand. Hinter diesem stehen zwei weitere, diesmal junge Männer; alle vier Personen blicken nach oben, wo Christus als Weltenherrscher in einer Mandorla thront. Die Kunstgeschichte hat die drei rechts stehenden Personen als Stammväter Jesu identifiziert – als Abraham, David und Jojachin (in der Vulgata: Iechonias). Und während Matthäus in seinem Evangelium zunächst von der ersten Ankunft Jesu auf Erden berichtet, schaut er in dieser Darstellung zusammen mit den Stammvätern wie in einer Vision die „zweite Ankunft“, also die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten. Auch davon handelt er schließlich ausführlich in den Kapiteln 24 und 25 seines Textes.
Im Limburger Evangeliar ist Christus noch ein zweites Mal in einer Mandorla dargestellt, nämlich am Ende des Markus-Evangeliums als bildlicher Ausdruck seiner Himmelfahrt (fol. 104v). Genau wie bei Matthäus trägt er hier einen Kreuzstab in seiner rechten und ein Buch in seiner verhüllten linken Hand. Ganz in Weiß gekleidet, genau wie die ihn begleitenden Engel, wird er hier stehend-triumphierend in den Himmel emporgehoben. Die beiden Engel dagegen, die bei Maria und den Aposteln stehen, sind der Apostelgeschichte entlehnt, wo sie den Zurückgebliebenen die endzeitliche Wiederkunft Christi verkünden. Am Ende des Bildzyklus aus dem Leben Jesu wird damit doppelt – durch die Engel wie auch durch die Mandorla – zurückverwiesen auf den Beginn der Heilsgeschichte, nämlich auf das oben beschriebene, ikonographisch höchst komplexe Porträt des Matthäus.