Ein „Pontifikale zwischen allen Stühlen“ – Cod. 141 der Kölner Dombibliothek
Als liturgisches Amtsbuch enthält ein Pontifikale alle Texte für Weihen und Segnungen, die dem Bischof vorbehalten sind. Cod. 141 entstand um die Mitte des 11. Jahrhunderts im nordfranzösischen Doppelbistum Arras-Cambrai, das teils dem französischen, teils dem römisch-deutschen Reich angehörte sowie kirchlich dem Erzbischof von Reims unterstellt war. Die Handschrift lässt deutlich die Zerrissenheit dieser Situation erkennen und gibt eine liturgische Antwort darauf – in den Texten genauso wie in der Buchmalerei.
Ein Pontifikale enthält liturgische Texte und Handlungsanweisungen für Weihen und andere Rituale, die dem Bischof vorbehalten sind. Das sind in der Regel ordines für die Weihe von Klerikern wie Subdiakon, Diakon und Priester, dann bischöfliche Weihehandlungen wie Öl- und Chrisamweihe in der Karwoche oder die Kirchweihe sowie schließlich die Segnung von liturgischen Gewändern, Geräten (Kelche, Hostienbehälter) und Glocken. In der vorliegenden Handschrift sind außerdem Formulare für die Weihe von Papst, Bischöfen, Äbten und Äbtissinnen sowie für die Königs- und Kaiserkrönung enthalten. Pontifikalien unterscheiden sich inhaltlich meist sehr stark und sind auf örtliche Besonderheiten zugeschnitten, was ihre Zuordnung zu einer bestimmten Kirche oder Diözese vereinfacht. (fol. 77v)
Das Pontifikale Cod. 141 der Kölner Dombibliothek entstand in der Mitte des 11. Jahrhunderts und lässt sich eindeutig dem Doppelbistum Arras-Cambrai im Norden Frankreichs zuordnen. Es spiegelt in seiner Anlage die komplexe Situation dieses Konstrukts wider: Während der ursprüngliche Bischofssitz Arras dem westfränkischen (französischen) Königreich angehörte, unterstand die jüngere Residenz Cambrai den ostfränkischen, also römisch-deutschen Königen bzw. Kaisern. Kirchlich gesehen gehörten beide Bistumsteile zum (französischen) Erzbistum Reims. Erst 1093/94 erfolgte eine Teilung durch die Errichtung eines eigenständigen Bistums Arras. Bis dahin, schreibt die Aachener Historikerin Julia Exarchos, waren die Bischöfe von Cambrai einerseits „Teil des ottonisch-salischen Reichskirchensystems, mussten sich gleichzeitig jedoch durch ihre Funktion als Bischof von Arras mit den Interessen lokaler französischer […] Adliger und dem französischen König auseinandersetzen.“ In der Anlage und dem Inhalt des Pontifikale Cod. 141 sieht Exarchos in einem kürzlich veröffentlichten Tagungsbeitrag daher die „liturgische Antwort“ auf diese zerrissene Situation der Bischöfe. (fol. 153r)
Deutlich wird dies an Ergänzungen und Überarbeitungen der Texte, die ihrerseits aus verschiedenen Überlieferungen stammen, an deren erster Stelle das seit dem 10. Jahrhundert verbreitete Pontificale Romano-Germanicum (kurz: PRG) steht. So übernimmt etwa der Ordo zur Bischofsweihe viele Elemente aus dieser Vorlage, schiebt am Ende der Befragung des Kandidaten jedoch ein schriftliches Versprechen des Gehorsams gegenüber dem Metropoliten von Reims ein (fol. 124v, Z. 12/13). Dieser sonst nicht übliche Einschub sollte offenbar die Verbundenheit des Doppelbistums mit dem Erzbistum bzw. seinem Metropoliten demonstrieren.
Ganz außergewöhnlich ist demgegenüber der Ordo zur Kaiserkrönung (fol. 166r) – in Cambrai war es selbstverständlich nie zu einer Kaiserkrönung gekommen, so dass schon die schiere Existenz dieses Textes einen Hinweis auf die Bindung an das römisch-deutsche Reich beinhaltet. Im Pontifikale Cod. 141 wurde das aus PRG-Texten zusammengestellte Ritual zudem stark verändert und mit Erläuterungen versehen, so dass es sich hier um eine einzigartige Überlieferung handelt. Die Texte zur Königskrönung wiederum (fol. 153r) entstammen überwiegend in Frankreich verbreiteten Quellen, werden jedoch ebenfalls so stark modifiziert, dass hier ein eigenständiges Ritual vorliegt.
Die Handschrift wurde vermutlich im Benediktinerkloster Arras um die Mitte des 11. Jahrhunderts geschaffen – darauf weisen etwa Erwähnungen des Lokalheiligen Vedastus (Saint-Vaast) oder Hervorhebungen des hl. Benedikt. Es stammt im Wesentlichen von nur einem Schreiber; lediglich ab fol. 185v finden sich Nachträge des 12. und 14. Jahrhunderts. Auch kunsthistorisch lässt sich das ungewöhnlich üppig ausgestattete Werk in die Produktion dieses Skriptoriums einordnen. Die Kölner Kunsthistorikerin Susanne Wittekind konnte schon 2012 nachweisen, dass die Schmuckelemente und Miniaturen nicht nur ästhetische Funktion hatten, sondern auch halfen, den Codex zu strukturieren und bestimmte Texte hervorzuheben. So beginnt der Text der ordines nach einem ausgiebigen Inhaltsverzeichnis auf fol. 5v mit einer gerahmten Miniaturseite in mehrfarbiger, kolorierter Federzeichnung: Die Gottesmutter thront hier, umgeben von einem Sternenhimmel, in einer golden und silbern gerahmten Mandorla und hält einen Globus mit goldenem Kreuz als Sinnbild für die Weltherrschaft Christi. Auf ihrem rechten Knie sitzt das Jesuskind, ebenfalls ein Kreuz in Händen haltend und in die Richtung der Weltkugel segnend. Die Miniatur gehört zum ordo ad pueros consignandos – dem Bezeichnen von Knaben mit dem Kreuzzeichen, das eigentlich zum Ritus der Segnung von Katechumenen in der Osternacht gehört. In Cod. 141 ist dieser Ritus samt Zierseite jedoch an den Beginn der Weihehandlungen für die geistlichen Ämter gesetzt, angefangen vom Lektor bis hin zum Bischof, so dass hier das gesamte christliche Leben – und nicht nur das der Kleriker – symbolisch unter das Zeichen der Nachfolge Christi gestellt wird.
Eine weitere gerahmte Miniaturseite steht am Beginn der bischöflichen Segnungen für die Feste im Lauf des Kirchenjahres. Dieses beginnt, wie in liturgischen Büchern üblich, mit dem ersten Adventssonntag und ist mit dem Bild der Verkündigung an Maria hervorgehoben (fol. 77v, Bild s. oben). Wie schon die Eingangsminiatur der thronenden Madonna weist auch dieses Marienbildnis auf das Patrozinium der Kathedralen von Arras und Cambrai hin: in Cambrai war die ganze Kirche, in Arras der Hauptaltar der Maria Sancta dei genitrix, der Gottesgebärerin, geweiht. Die meisten weiteren Miniaturen in der Handschrift deuten die Weihehandlungen des Bischofs bildhaft aus, doch steht dabei nicht der Bischof im Mittelpunkt, sondern die göttliche Gnade, die durch den Weihenden vermittelt wird (fol. 33r). Vielleicht lässt sich hier wieder ein Hinweis auf das Selbstverständnis der Bischöfe von Arras-Cambrai erkennen, die eben nicht auf ihre Macht pochten, sondern sich eher als Vermittler gegenüber den verschiedenen Interessensphären empfanden. Wie man sich eben verhält, wenn man „zwischen allen Stühlen“ sitzt.