Ein Kommentar zum Kommentar – Wie mittelalterliche Gelehrte die glossierte Bibel erforschten und nutzten (Cod. 10)
Die Interpretation und Deutung der Bibel stand bereits im Mittelalter im Zentrum der Theologie. Die Etablierung eines standardisierten Bibelkommentars im 12. Jahrhundert führte dazu, dass nun der Kommentar selbst ausgelegt wurde. Das Ergebnis sieht auf den ersten Blick aus wie der Albtraum eines jeden Bibliothekars, denn die Seitenränder sind über und über beschrieben – dafür gibt es jedoch eine Erklärung.
Bereits in der Spätantike und im Frühmittelalter entstanden aus den Federn der frühen Kirchenväter Kommentare zu Kernstellen der Bibel, besonders zu den Psalmen und den Evangelien. Eine kontinuierliche Auslegung der gesamten Bibel fehlte jedoch. Im 11. und 12. Jahrhundert wurden immer mehr Stellen der Bibel ausgelegt und u.a. durch Anselm von Laon († 1117) und dessen Schüler zusammengetragen und vervollständigt. Die Texte von Gregor dem Großen, Augustinus, Origenes, Beda Venerabilis und anderen frühen Theologen wurden dabei nicht als zusammenhängende Texte kompiliert, sondern als Glossen in den Bibeltext selbst eingefügt. Diese konnten am Rand des Textes oder zwischen den Zeilen stehen, wobei die Rand- oder Marginalglossen oftmals ausführlichere Interpretationen darstellten, während die sogenannten Interlinearglossen eher kurze Worterklärungen boten. Im Verlauf des 12. Jahrhunderts wurden sie als „die Glosse“ (mit langem o) oder auch Glossa ordinaria als Gesamtheit standardisiert und dienten u.a. zur Vorbereitung von Vorlesungen an der Pariser Sorbonne. Ab dem 13. Jahrhundert wird die Glossa ordinaria auch selbst Gegenstand der Interpretation durch frühe Scholastiker, die kurzerhand die Glosse glossierten.
Der vorliegende Codex 10 ist ein klassisches Beispiel für dieses Phänomen. Die Handschrift datiert in das 13. Jahrhundert (wahrscheinlich in das letzte Drittel) und stammt aus Nordfrankreich oder Deutschland. Sie enthält die Bücher Daniel und Ezechiel des Alten Testaments und war möglicherweise Bestandteil einer mehrbändigen Reihe, die die gesamte Bibel umfasste. Erkennbar ist das typische Layout einer glossierten Bibel der Zeit mit drei Spalten, in deren Mitte der Bibeltext in größerer Schrift zu finden ist und zu deren Seiten die Glossa in etwa halb so großer Schrift (siehe z.B. fol. 12v). Interlinearglossen (die zwischen den Zeilen stehen) sind wiederum halb so groß wie die Marginalglossen an der Seite (siehe z.B. fol. 36v). Das Spaltenschema diente jedoch lediglich als Grundlage und wird auf den meisten Seiten flexibel gehandhabt. Während auf manchen sich nur der Haupttext findet (z.B. fol. 31r), der dann über den gesamten Schriftraum läuft, unterbrechen meist verschiedene Textabschnitte die Spaltengrenzen (z.B. fol. 40v und 60r).
Die Glossa ordinaria und der Haupttext sind in einer sauberen gotischen Semiquadrata geschrieben. Es arbeiteten drei Schreiber, die je ein Drittel des Codex verfassten, an der Handschrift. Die sekundären Glossen sind in einer kursiven Schrift des 14. Jahrhunderts und nur von einer Hand verfasst. Diese sekundären Glossen finden sich zu beiden Seiten des Textes, sowohl am äußeren Rand der Seiten als auch im Inneren, und sind sehr klein, aber ordentlich geschrieben (siehe z.B. fol. 15r). Es ist unklar, wie der Schreiber der späteren Eintragungen es zustande brachte, so ordentlich in das Innere des Buches nahe der Falz zu schreiben. Es ist unwahrscheinlich, dass er die einzelnen Lagen noch vor sich hatte und schrieb, bevor das Buch gebunden wurde, denn seine Schrift ist deutlich jünger. Die Blindliniierung, die an den Seiten und unterhalb des Textes vorgenommen wurde, um die sekundären Glossen aufzuschreiben, zeigt jedoch, dass er diese Eintragungen planvoll vorgenommen hat (siehe z.B. fol. 11r). Überhaupt weist auch der breite Rand besonders an den äußeren und unteren Seiten des Blattes darauf hin, dass der Codex von Anfang an als Gebrauchshandschrift gedacht war.
Zu diesem Gebrauch zählte sicherlich die Vorbereitung für den Unterricht, entweder in einer Domschule oder auch an einer Universität. Sie weist zahlreiche Gebrauchsspuren auf: So ist an manchen Stellen das Pergament vom vielen Blättern so ausgedünnt, dass Löcher entstanden sind und die Farbe der Federstrichverzierung verblasste (siehe z.B. fol. 38v). Diese Veränderungen sind vor allem im zweiten Drittel des Codex zu beobachten, am Anfang des Buches Ezechiel. Andere Hinweise auf die Benutzung finden sich am Ende des Buches Daniel, wo eine Liste der persischen, ägyptischen und syrischen Könige zu finden ist (fol. 32r). Sie stammt nicht von einem der Schreiber der Handschrift und ist der Schrift nach zu urteilen jünger als der Codex, jedoch älter als die sekundären Glossen. Sie steht zwar in inhaltlichem Bezug zum Buch Daniel, doch nennt sie mehr Könige als im gesamten Alten Testament vorkommen – womöglich schrieb der Benutzer lediglich sämtliche ihm bekannten Königsnamen auf, um eine Übersicht zu erschaffen.
Wem diese Handschrift gehörte und wer die diversen Eintragungen vornahm, ist nicht bekannt. Es muss jedoch jemand gewesen sein, der sich verzierte Handschriften leisten konnte: Abwechselnd rote und blaue Satzinitialen im Haupttext schmücken den Codex ebenso wie gleichfarbige Kapitelzahlen an den Seiten und Buchtitel an den oberen Rändern. Alinea-Zeichen in den Glossenspalten, deren Federstrichverzierungen bis zum unteren Rand der Seite reichen können, vervollständigen dieses Bild. Aufwendige Initialen, wie sie in anderen Codices dieser Art, bspw. in Cod. 6 der Dombibliothek, zu finden sind, fehlen hier allerdings. Vermutlich waren sie jedoch ursprünglich geplant: Zu Beginn der Bücher Daniel und Ezechiel wurde auf jeweils zwei Seiten entsprechend Platz für 5- bis 11-zeilige Initialen gelassen (fol. 2r, 2v, 33r und 34v), der jedoch nie ausgefüllt wurde. Diese Lücken finden sich nur im ersten Drittel des Bandes. Möglich wäre, dass am Anfang der Herstellung mit einem Buchmaler die Einfügung der Initialen vereinbart wurde, diese jedoch aus unbekannten Gründen nicht ausgeführt wurden. Die beschriebenen anderen Verzierungen wurden von einem Rubrikator durchgeführt, der jedoch auch mit einem der Schreiber identisch gewesen sein könnte.
Wie bereits angedeutet, ähnelt der Codex 10 einer anderen Handschrift der Dombibliothek, nämlich dem Codex 6, der im September 2021 bereits als Handschrift des Monats vorgestellt wurde. Dieser enthält die Bücher Sprichwörter bis Jesus Sirach des Alten Testaments mit den entsprechenden Teilen der Glossa ordinaria. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Handschriften sind verblüffend: Beide verfügen über abwechselnd rote und blaue Satzinitialen, Alinea-Zeichen mit Federstrichverzierungen und Buchtiteln am oberen Rand der Seite. Beide handhaben das Spaltenschema derartig flexibel, dass es an manchen Stellen nicht mehr zu erkennen ist, und nicht zuletzt sind beide mit Anmerkungen in einer kursiven Schrift versehen (siehe z.B. Cod. 6, fol. 5v). Diese Ähnlichkeiten und die Tatsache, dass beide Handschriften einer Reihe von glossierten Bibeln entstammen müssen, könnten vermuten lassen, dass sie ursprünglich zusammengehörten. Dies ist jedoch nicht möglich, denn es gibt auch markante Unterschiede zwischen ihnen: Zum einen ist die Schrift des Haupttextes und der Glossen nicht dieselbe (eine Semiquadrata in Cod. 10 und eine Textualis formata in Cod. 6), zum anderen finden sich in Codex 6 die bereits erwähnten Initialen, die in Nr. 10 fehlen. Weitere kleinere Unterschiede wie die Kapitelnummerierung, die in Codex 6 fehlt, zeigen eher, dass die Handschriften wohl nach demselben Standard für glossierte Bibeln verfasst wurden, wie er sich im 13. Jahrhundert etablierte. Dieser sorgte für eine relativ große Einheitlichkeit der erhaltenen Exemplare und führte dazu, dass diese heute kaum mehr einer Region, geschweige denn einem Skriptorium zugeordnet werden können.
Die Dombibliothek weist durch diesen Befund auf einen Trend hin: Mehr als ein Drittel aller Bibelhandschriften der heutigen Dombibliothek stammt aus dem 13. Jahrhundert und die Hälfte aller Handschriften, die aus diesem Jahrhundert in den Beständen zu finden sind, sind Bibeln. Dass die Dombibliothek über gleich zwei solcher Handschriften verfügt, zeigt nicht zuletzt auch, wie wichtig diese Texte zu Beginn der Scholastik waren. (Cod. 10, fol. 23r)