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Der büßende Bischof - Das Epistolar des Erzbischofs Everger, Cod. 143

Handschrift des Monats März 2023
Datum:
1. März 2023
Von:
Dr. Harald Horst
Im Gegensatz zu Evangeliaren gibt es nur wenige mit Buchschmuck ausgestattete Epistolare, d.h. Bücher für die erste Schriftlesung in der Messliturgie.

 

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Diese Handschrift beginnt gleich auf den ersten beiden Seiten mit einem buchmalerischen Paukenschlag: Auf der linken Bildseite (fol. 3v) liegt ein Bischof, flach ausgestreckt auf einer blühenden Wiese, gekleidet in liturgische Gewänder und mit einem Manipel – einem streifenförmigen Schweißtuch – um die gefalteten Hände. Die lateinischen Verse darüber, kostbar in Goldschrift auf Purpur ausgeführt, verleihen dieser Demutsgeste sprachlichen Ausdruck: „Gütiger Vater [Petrus], löse mit Macht die Verstrickung in Schuld. Paulus, erwählt von Gott, löse gleichfalls die Sünden, dass ich erlange durch Christi Geschenk die himmlische Gnade. Erzbischof Everger.“

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Auf der Seite gegenüber (fol. 4r) thronen die beiden angesprochenen Apostel Petrus und Paulus über der gleichen Wiese. Beide halten mit der linken Hand geschlossene Bücher auf ihrem Schoß. Mit der Rechten weist Petrus nach unten auf den Bischof, während Paulus den Liegenden segnet. Eine goldene Umschrift um die Apostel verleiht der Bitte Evergers energischen Nachdruck: „Bischof Everger, in dessen Namen ich [= das Buch] geschrieben bin, fordert diese hier mit demütigem Sinne auf, sich als seine Beschützer zu erweisen.“ Der büßende Bischof musste wohl nicht lange auf Vergebung warten: Beim Schließen des Buches vollzieht er – unsichtbar für alle Betrachtenden – bei Petrus einen Fußkuss, während zeitgleich dessen rechte Hand über dem Haupt des demütig Bittenden schwebt und somit gleichsam die Absolution erteilt.

 

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Das grandiose Bildwerk steht am Beginn einer eigenständigen Kölner Buchmalerei, einer vielbeachteten Malerschule, die in ottonischer und salischer Zeit wirkte und von der weltweit noch zwanzig Codices erhalten sind. Durch die Erwähnung des Erzbischofs Everger lassen sich die Anfänge der Werkstatt in dessen Amtszeit datieren, also in die Jahre 985 bis 999; ihr Ende liegt vor oder um 1060. Das Epistolar Cod. 143 steht innerhalb dieser Gruppe seltsam isoliert da: Paläographisch stehen ihm noch die (schmucklosen) Codices 5 und 53 der Dombibliothek zur Seite, doch künstlerisch hatte das Werk keinen stilprägenden Einfluss auf die nachfolgenden Handschriften. Dabei attestiert die Kieler Kunsthistorikerin Ursula Prinz ihm durchaus kreative Eigenständigkeit: Es schöpfe aus unterschiedlichen Vorlagen, die überwiegend in der byzantinischen, der karolingischen und der Reichenauer Buchmalerei zu verorten seien – zur letzteren gehören etwa solche goldenen, rot konturierten Flechtbänder (fol. 8r). Die Umsetzung der Vorlagen sei jedoch nicht durch simples Kopieren, sondern durch einen geistvollen Umgang mit deren Stilelementen gekennzeichnet. Die Kölner Buchmalerei allerdings entwickelte sich danach in eine andere Richtung.

 

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Auch inhaltlich handelt es sich bei Cod. 143 eher um eine Rarität, nämlich um eine in der Messliturgie verwendete Prachthandschrift, aus der die erste Lesung vorgetragen wurde. Wie die meisten dieser sogenannten Epistolare ist auch dieses nach dem Kirchenjahr geordnet. Es enthält also nicht die vollständigen biblischen Texte, sondern lediglich die ausgewählten Leseabschnitte (Perikopen) für den jeweiligen liturgischen Anlass. Diese stammen überwiegend aus den Paulus- und Petrus-Briefen, zum Teil aber auch aus den alttestamentlichen Prophetenbüchern, der Apostelgeschichte und der Apokalypse. Als Buchtyp ist das Epistolar damit dem Evangelistar verwandt, das die entsprechenden Perikopen für die Evangelienlesung enthält. Der Schwerpunkt auf den Apostelbriefen erklärt die häufig am Beginn der Lesungen eingeschobene Anrede „Fratres“ (Brüder), wie sie hier gekürzt in einer goldenen F-Initiale auf blauem Grund angedeutet wird (fol. 6r). Die Rahmung der Flechtband-Initiale mittels gegenständiger Palmetten in Gold und Silber deutet ihre prominente Stellung als feierliche Einleitung der Lesung zur Christmette an.

 

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Dass die Lesungstexte überwiegend den Briefen der Apostel Petrus und Paulus entnommen sind – wie hier in der Einleitungsformel zum Römerbrief  (fol. 5v) explizit erwähnt –, erklärt auch die Darstellung der beiden Apostelfürsten gleich zu Beginn der Handschrift. Parallel dazu findet sich in Evangeliaren an dieser Stelle manchmal die Darstellung des thronenden Christus, um den es in den dort enthaltenen Texten schließlich geht.

 

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Die starke Betonung der Buße durch Erzbischof Everger und sein flehendes Bitten um Vergebung seiner Sünden hat aber sicher auch einen realpolitischen Hintergrund. Er unterhielt zwar freundschaftliche Beziehungen zu Kaiserin Theophanu und ihrem Sohn Otto III., was sich durchaus positiv auf Kultur und Handel in der Stadt Köln auswirkte. Andererseits wird ihm auch starker Reformwille nachgesagt, den er zum Teil gegen Widerstände durchsetzte – konkret beschwerten sich etwa die Benediktiner von (Mönchen-)Gladbach und die Stiftsherren von St. Kunibert über sein angeblich „gewalttätiges Wüten“ gegen sie. Vor allem aber wird Everger nachgesagt, seinen Vorgänger Gero begraben zu haben, obwohl mehrere Zeugen ihn darauf hinwiesen, dass dieser nur scheintot sei. Man mag dies glauben oder nicht – Erzbischof Everger hielt sich für einen Sünder und bekannte sich reumütig dazu, mit diesem Epistolar sogar öffentlich und stets wiederholt im liturgischen Ritual (fol. 73v). Im Glauben seiner Zeit hatte er damit beste Chancen, die erbetene Vergebung auch tatsächlich zu erhalten.