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Das Alte Testament mit Glosse (Cod. 6)

Handschrift des Monats September 2021
Datum:
1. Sept. 2021
Von:
Dr. Harald Horst
Die Glosse - mit langem o - ist keine Zeitungssatire, sondern ein theologischer Kommentar z.B. zur Bibel. Im 13. Jahrhundert versah man diese Bibelhandschrift mit vielen verschiedenen Glossen bis ganz an den Rand.
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Bereits in der Spätantike hatten Leser der Bibel das Bedürfnis, schwierige Stellen, Wörter oder Namen zu verstehen und erklärt zu bekommen. Früh kam man daher auf die Idee, den Bibeltext im Buch selbst und mittels längerer Zitate zu erläutern, die man Glossen (mit langem o!) nannte. Man bediente sich dabei vor allem aus den Predigtsammlungen, Traktaten oder Kommentaren der Kirchenväter – Hieronymus, Augustinus, Gregor der Große und andere. Ihre Blüte erreichte diese Art der Bibelauslegung zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Nordfrankreich. An der Kathedralschule von Laon entstand unter der Leitung der Brüder Anselm (†1117) und Radulph (†1131/33) ein vollständiger Apparat an Glossen zur gesamten Bibel. Der in Paris lehrende Petrus Lombardus (†1160) zitierte in seinem Sentenzenkommentar häufig „die Glosse“ und machte sie damit zum grundlegenden Arbeitsinstrument der scholastischen Exegese. So ist es insbesondere den neu entstehenden Universitäten zu verdanken, dass dieses Glossencorpus zum immer wieder abgeschriebenen Standardwerk wurde, zur sogenannten Glossa ordinaria (fol. 5r). 

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Die Dom-Handschrift Cod. 6 ist ein typisches Exemplar einer glossierten Bibelhandschrift. Vermutlich ist sie in Nordfrankreich im 13. Jahrhundert entstanden und war Teil einer mehrere Bände umfassenden Bibelabschrift, da sie nur die Bücher Sprichwörter bis Jesus Sirach enthält. Die Aufteilung der einzelnen Seiten zwischen Bibeltext und Glossen war für die Schreiber der Handschrift eine große Herausforderung, wenn sie den zur Verfügung stehenden Raum optimal nutzen wollten. So wurde jedes Blatt zunächst in meist drei Spalten aufgeteilt. In die mittlere Spalte wurde der Bibeltext in einer großen, sorgfältig ausgeführten gotischen Schrift geschrieben (Textualis formata). Die beiden äußeren Spalten nahmen die zusammenhängenden Kommentartexte der Glossa ordinaria in der gleichen, doch wesentlich kleineren Schrift auf (fol. 144r). Zwischen den Zeilen stehen in nochmals kleinerer Schrift Erläuterungen – die sogenannten Interlinearglossen – zu einzelnen Wörtern, meist Synonyme.

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Außerdem war die Handschrift von vornherein als Arbeitsexemplar angelegt, denn an den seitlichen und unteren Blatträndern ist noch genügend Raum für eigene Anmerkungen, die Marginalglossen. Ein späterer Schreiber hat diesen Raum auch reichlich genutzt (fol. 135r).

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Seine schnell (kurrent) dahingeworfene Schrift ist allerdings extrem klein und verwendet zahlreiche Abkürzungen und Auslassungen. Mit einem eigenen System von Verweiszeichen sorgte er dafür, dass der Zusammenhang zwischen Text und Anmerkung nicht verloren ging (fol. 88v).

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Auch wenn es sich bei diesem Codex um ein Arbeitsexemplar handelt, verzichtet er doch nicht auf buchkünstlerische Elemente: rote und blaue Großbuchstaben, teils mit Federzeichnungen verziert, stehen an den Satzanfängen, ebensolche Alinea-Zeichen markieren eine neue Glosse. Zu Beginn der biblischen Bücher stehen zudem drei bis zehn Zeilen umfassende Zierinitialen in Rot und Blau, deren Körper und Schäfte mit Blumenranken geschmückt sind (fol. 67r). Ein Student konnte sich eine solch exklusive Pergamenthandschrift allerdings sicher nicht leisten. Eher wurde sie für einen Dozenten der Theologie angefertigt. Die nachträglich glossierenden Eintragungen könnten dann als Vorbereitung seiner theologischen Vorlesungen erfolgt sein.

Digitalisate der Handschrift Cod. 6 und weitergehende Informationen können jederzeit über die Digitalen Sammlungen der Diözesanbibliothek abgerufen werden: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-1689.

 
Abbildungen:

Cod. 6, 5r Beginn des Buches der Sprichwörter

Cod. 6, 144r Aufteilung in Spalten, Raum für Interlinear- und Marginalglossen

Cod. 6, 135r Anmerkungen eines späteren Schreibers bis an den Blattrand

Cod. 6, 88v System von Verweisungen, markiert „vias difficiles“ und Kommentar

Cod. 6, 67r Buchschmuck: rote und blaue Zierinitialen mit Federzeichnung

 

Ansprechpartner:

Herr Dr. Harald Horst
Telefon: 0049 221 1642 3796 

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